9punkt - Die Debattenrundschau - Archiv

Europa

2810 Presseschau-Absätze - Seite 1 von 281

9punkt - Die Debattenrundschau vom 08.05.2024 - Europa

Fassungslos berichtet Inna Hartwich in der taz von Putins Einführung in seine fünfte Amtszeit: "In seiner achtminütigen Rede spricht er von 'traditionellen Werten', 'Volkserhaltung' und der 'Einzigartigkeit Russlands'. 'Auf den ersten Platz müssen wir immer unsere Heimat stellen', sagt er. Der Kreml vereinnahmt mittlerweile jeden Einzelnen für den Erhalt seines Status quo. Putin stellt an die Menschen neue Ansprüche, fordert nicht mehr nur die schweigende Zustimmung, sondern macht sie zu Komplizen seines Regimes: Sie sollen für die von den Machthabern ausgemachten Helden jubeln, sollen an den russischen Sieg glauben. 'Alle zusammen werden wir siegen', ist seine Losung. Zur 'neuen Elite' im Land sollen die werden, die sich an der Front und in den Militärfabriken fürs Vaterland aufopfern, das ist Putins Ziel. Dafür lässt er sich vom höchsten Vertreter der russisch-orthodoxen Kirche segnen. 'Hoheit' nennt ihn Patriarch Kirill in der Mariä-Verkündigungs-Kathedrale im Kreml. Wie die früheren Zaren."
Stichwörter: Putin, Wladimir, Russland

9punkt - Die Debattenrundschau vom 07.05.2024 - Europa

Die AfD hegt große Sympathien für die Autokratien in China und Russland, "zur Ehrlichkeit gehört aber auch: Die AfD ist in ihrer Käuflichkeit den etablierten Parteien verwandt, sie agiert nur dreister, dümmer und draufgängerischer. In ihrer romantischen Verklärung von Russland und China stehen ihr Sahra Wagenknecht, SPD und CDU in nichts nach", meint in der taz der Satiriker Florian Schroeder. "Sahra Wagenknecht hat gerade erst bei The Pioneer zu Protokoll gegeben, Putin sei zwar ein autoritärer Herrscher, habe aber die Russen aus einer Demütigung herausgeführt. Unglücklich, dass dafür zehntausend ukrainische Zivilisten und Hunderttausende Soldaten mit dem Leben bezahlen mussten." Aber auch Manuela Schwesig von der SPD, Sachsens Ministerpräsident Kretschmer (CDU) und Maximilian Krah (AfD) bekommen von Schroeder ihr Fett weg, der am Ende warnt: "Diese romantische Vergaffung Russlands und Chinas, der viele Linke, Linksliberale und vereinzelte Konservative den Boden bereitet haben, hat nur ein Ziel: den amerikanischen Liberalismus als Quelle allen Übels anzugreifen, weil Freiheit offenbar noch gefährlicher erscheint als brutale Autokratien."

In der Zerstörung von Charkiw und der geplanten Einrichtung "sanitärer Zonen" offenbart sich dem vor Ort lebenden Schriftsteller Sergei Gerasimow in der NZZ die ganze Schizophrenie, ja: "Faschizophrenie" Putins: "Sanitäre Zonen werden in der Regel um Einrichtungen herum eingerichtet, wo es eine Verschmutzung oder eine Kontamination gegeben hat. Allein der Gedanke an eine sanitäre Zone in der Ukraine spricht Bände darüber, was die Kremlführung, die sich so rührend um das Wohlergehen der Russen und der russischsprachigen Bürger bei uns kümmert, wirklich über diese denkt: Einerseits lieben wir euch so sehr, dass wir das Leben Hunderttausender Russen aufs Spiel setzen würden, nur damit eure Rechte nicht verletzt werden, andererseits behandeln wir euch wie eine stinkende Müllhalde, einen Rinderfriedhof oder einen Milzbrandherd und sind bereit, euer Gebiet in eine Wüste zu verwandeln - mit euch oder ohne euch, das ist uns egal."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 06.05.2024 - Europa

Wenn jemand gegen Putin protestiert, dann ist er wohl verrückt! Der unter Pseudonym schreibende russische Journalist Boris Klad schildert in der FAZ, wie unter Putin das Instrumentarium, das schon in den Siebzigern gegen Dissidenten eingesetzt wurde, wieder aus der Mottenkiste geholt wird. Für Putin hat es viele Vorteile, Regimegegner in psychiatrische Anstalten zu schicken: "Wenn Dissidenten für verrückt erklärt werden, gibt es weniger 'politische' Prozesse, die Fassade der Legalität ist leichter aufrechtzuerhalten. Außerdem kann man Dissidenten so leichter kontrollieren. Denn im Unterschied zum Gefängnis mit seinen klaren Regeln kann man in einer Spezialklinik beliebig lange festgehalten werden. So kann man Oppositionelle loswerden, die das Gefängnis womöglich nicht bricht. Mittels Psychopharmaka lassen sie sich in 'Gemüse' verwandeln."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 04.05.2024 - Europa

Die Republik Moldau ist nicht nur durch das Randgebiet Transnistrien gefährdet, sondern auch durch das Gebiet Gagausien, berichten Friedrich Schmidt und Michael Martens in der FAZ. Das teils an die Ukraine grenzende Gebiet, flächenmäßig doppelt so groß wie die Stadt Berlin, aber nur von 135.000 Menschen bevölkert, hat einen autonomen Status - und Politiker, die sich Putin mit viel Geld gefügig macht. "Die Gagausen sind zwar ein turksprachiges Volk, doch religiös dem orthodoxen Christentum zugehörig. In der Identität steht für eine große Mehrheit der Gagausen das religiöse Bekenntnis weit über der sprachfamiliären Herkunft. Das musste auch der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan erfahren, als er im Jahr 2018 Comrat besuchte. Die Türkei bemüht sich eifrig um die Köpfe und Seelen der Gagausen, finanziert den Bau von Schulen, Kindergärten und sogar einer Universität, unterhält auch ein Generalkonsulat in Comrat. Doch in der Beliebtheit steht sie bei der gagausischen Bevölkerung eindeutig im Schatten Russlands."
Stichwörter: Gagausien, Moldau, Republik Moldau

9punkt - Die Debattenrundschau vom 03.05.2024 - Europa

Emmanuel Macron wiederholt in einem Economist-Interview, dass er europäische Bodentruppen in der Ukraine nicht ausschließt, falls Russland große Geländegewinne macht. Der Economist resümiert selbst: "Macron weigert sich, von seiner Erklärung vom Februar abzurücken. ... Sie rief bei einigen seiner Verbündeten Entsetzen und Wut hervor, aber er besteht darauf, dass ihre Zurückhaltung Russland nur ermutigen wird, weiterzumachen: 'Wir waren zweifellos zu zögerlich, als wir jemandem, der keine Grenzen mehr hat und der der Aggressor ist, die Grenzen unseres Handelns aufgezeigt haben.'" Das Macron-Interview ist hier in Le Monde auf englisch zusammengefasst.

"Ein halbes Jahrhundert nach der 'Nelkenrevolution' drohen die demokratischen Errungenschaften, die sie damals so eindrucksvoll erkämpfte, in ganz Europa verspielt zu werden", fürchtet Richard Herzinger, der in seiner Perlentaucher-Kolumne an das "Pathos der Freiheit" erinnert, das Portugal und dann Griechenland und Spanien aus dem Zugriff der Diktatoren befreite: "In der trügerischen Gewissheit, die liberale Ordnung sei nunmehr alternativlos, ist in den europäischen Gesellschaften die kollektive Erinnerung daran verblasst, welches grauenvolle Unheil Diktaturen bis ins späte 20. Jahrhundert hinein über den Kontinent gebracht haben - und welch ungeheurer Anstrengungen es bedurfte, sie endlich vollständig zu beseitigen."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 02.05.2024 - Europa

Vor zwanzig Jahren fand die Osterweiterung der Europäischen Union statt, unter anderem mit dem Beitritt von Polen, Slowenien, Tschechien und Ungarn. Doch der ganze Prozess geschah nicht ganz reibungslos und ging mit einer Gängelung von Seiten der "alten" EU-Staaten einher, meint Andreas Ernst rückblickend in der NZZ. "Das führte zu Ressentiments und antiliberalen Gegenschlägen. Nicht weil die Osteuropäer ihrer autoritären Vergangenheit nachtrauerten und mental 'noch nicht so weit' waren, wie westliche Kommentatoren schrieben. Sondern weil die von den Mentoren behauptete Alternativlosigkeit des eingeschlagenen Wegs viele Menschen enervierte. Solche Gefühle der Unterlegenheit hat der russische Angriff auf die Ukraine weggeblasen. Er hat die Stimmen der osteuropäischen Länder mit einem Schlag unüberhörbar gemacht. Denn es zeigte sich, dass etwa die Polen, Esten, Letten und Litauer viel früher verstanden, was jetzt auch Deutsche und Franzosen einsehen: dass Europa mehr sein muss als ein Markt, nämlich wehrhaft. Der Krieg hat den Schwerpunkt Europas weit nach Osten verschoben. Niemand würde mehr behaupten, dass dort Europäer zweiter Klasse leben."

Im Interview mit der FR glaubt der polnische Kulturphilosoph Andrzej Leder nicht an einen Polexit, also einen möglichen Austritt Polens aus der EU: "Denn zum einen wissen viele, dass bei einem EU-Austritt wir selbst die Gefahren Russlands abwehren müssten, die USA würden uns eher nicht retten. Die EU ist eine Form der Sicherung vor einem möglichen Krieg. Zum Zweiten aber wird es in Polen in den nächsten Jahren den erwähnten Generationenwechsel in der Politik geben. Für die neue Generation ist die EU eine Selbstverständlichkeit. Es dürfte also weniger eine Diskussion über einen Polexit geben als vielmehr darüber, in welcher EU wir sein wollen."

Der Vorwurf der "Russophobie", der von Putin-treuen Propagandisten gegen den Westen erhoben wird, dient lediglich Putins Machterhalt, meint der Politikwissenschaftler J. I. Szirtes in der NZZ. "Der ständige Vorwurf an das Ausland, 'russophob' zu sein, dient nicht nur dessen moralischer Abstempelung, es setzt es auch unter Rechtfertigungs- und Erklärungszwang. Dabei macht sich der Kreml die Xenophobie der einfachen Leute zunutze. Nach Meinungsumfragen unterstützen über vier Fünftel der Russen Putin, allerdings ohne über die Konsequenzen von dessen Politik genau im Bild zu sein. Die Mehrzahl der Menschen lebt auf dem Lande und hat Zugang ausschließlich zum regimehörigen Fernsehen. Sie lassen sich unschwer weismachen, dass ihre russische Lebensart bedroht sei, und entsprechend leicht kann Putin den beschützenden Zaren mimen, der sich um die Sorgen und Nöte der kleinen Leute kümmert."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 29.04.2024 - Europa

Der Tod von Alexej Nawalny und die vielen Blumen auf seinem Grab haben gezeigt, dass es in Russland noch eine Opposition gibt, schreiben die Bundestagsabgeordneten Michael Roth, Anton Hofreiter und Renata Alt in einem gemeinsamen Beitrag für die Welt. Dabei weisen sie auf die rund tausend politischen Inhaftierten im Land, darunter Wladimir Kara-Mursa (Unsere Resümees)". Seit zwei Jahren ist Kara-Mursa mittlerweile in immer entlegeneren Straflagern inhaftiert - ohne medizinische Versorgung, mit äußerst sporadischem Kontakt zu seiner Familie." Deshalb fordern die drei Autoren seine sofortige Freilassung "und es braucht eine entschlossenere Unterstützung und mehr Aufmerksamkeit für die russische Opposition." Was die Ampel-Regierung bisher konkret für die russische Opposition gemacht hat, bleibt von ihren drei Repräsentanten allerdings unbeantwortet.

9punkt - Die Debattenrundschau vom 27.04.2024 - Europa

Die EU muss sich reformieren, sonst geht sie zugrunde, warnen in der taz Sylvie Goulard und Daniel Cohn-Bendit, beide ehemalige Europaabgeordnete. Abschaffen wollen sie vor allem das Einstimmigkeitsprinzip. Und sie plädieren für ein föderales Europa: "Angesichts der russischen Bedrohungen und der Gefahr eines US-Isolationismus sollten wir uns reinen Wein einschenken: Es gibt keine politische Macht ohne solide Finanzen (wie es in Frankreich gern geglaubt wird) noch wirtschaftliche Macht, ohne Verantwortung für Sicherheit zu übernehmen (wie es die Deutschen lange Zeit gehofft haben). Und ganz zu schweigen von der Notwendigkeit einer tiefgreifenden Demokratisierung der Entscheidungsprozesse: kein demokratisches Europa ohne die Zustimmung der Bürger, kein Europa ohne ein Wir-Gefühl, das die Abgabe und das Teilen von Souveränität rechtfertigt." Denn genau dies begünstige den Vormarsch von Links- und Rechtsextremen, "getragen von nationalistischen und protektionistischen Versprechen. Ihre genialen Ideen würden uns zum Völkerbund zurückführen, mit dem uns allen bekannten Erfolg. Auch die traditionellen Parteien sind weit davon entfernt, etwas für die europäische Einigung zu riskieren und ziehen sie sich lieber in ihr bequemes Schneckenhaus zurück."

Immer wieder hört man, die Medien sollten der AfD keine Bühne bieten und sie ignorieren. In der SZ findet der ehemalige Bundesverfassungsrichter Peter Müller das eher fatal, er plädiert für die inhaltliche Auseinandersetzung und hat Vertrauen in die Bürger: "Die große Mehrzahl unterscheidet nicht zwischen 'Pass-' und 'Biodeutschen', hat mit einem ethnischen Volksbegriff nichts am Hut und sieht nicht in jedem Migranten einen potenziellen Vergewaltiger. Sie leugnet nicht den menschengemachten Klimawandel und ist gegen die unterwürfige Anbiederung an Putin. Sie will weder einen EU-Austritt noch die Abschaffung von Euro oder Nato. Sie erachtet den Nationalsozialismus nicht als 'Vogelschiss' der deutschen Geschichte und hat kein Problem, Tür an Tür mit Fußballnationalspielern jeder Herkunft zu wohnen. Wer erlebt hat, wie der frühere Geschichtslehrer Höcke im TV-Duell mit Mario Voigt versuchte, Ahnungslosigkeit bei der Verwendung von Nazi-Parolen vorzutäuschen und herumeierte, als er mit seinen Aussagen zu einer Politikerin mit Migrationshintergrund konfrontiert wurde, sollte das paternalistische Vogel-Strauß-Argument vergessen, man dürfe der AfD keine Bühne bieten. Kritik verdienen nicht Debatten mit der AfD, sondern die Unfähigkeit, dabei fundiert zu argumentieren."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 26.04.2024 - Europa

Buch in der Debatte

Bestellen Sie bei eichendorff21!
Im vergangenen Jahr hat der Historiker Jörn Leonhard das Buch "Über Kriege und wie man sie beendet" veröffentlicht. Mit einem "Einfrieren" jedenfalls nicht, sagt er im SZ-Gespräch mit Blick auf die Ukraine: "Putin könnte die Pause nutzen, um weiter aufzurüsten ..." Den Europäern macht er Vorwürfe: "Es ist unerträglich, dass die Europäer und eben auch Deutschland der Ukraine - also allen Menschen, die in der Ukraine leben, leiden und sterben - Versprechungen gemacht haben, die nicht eingehalten wurden, etwa bei der Lieferung von Munition. Wenn der Glaube an die verlässliche Hilfe schwindet, dann kann auch die Bereitschaft zur Verteidigung gegen den Aggressor insgesamt zusammenbrechen. Und dann könnte der Krieg tatsächlich schnell zu Ende gehen - mit einem Sieg Russlands."

Die italienische Philosophin Donatella di Cesare muss sich vor Gericht verantworten, weil sie den italienischen Landwirtschaftsminister Francesco Lollobrigida mit einem "Gauleiter" verglichen hatte. Im Zeit-Online-Interview warnt sie vor einer "Orbanisierung Italiens": "Giorgia Meloni will im Grunde in Italien eine dritte Republik gründen - mit starken autokratischen Zügen. Die erste Republik wurde nach dem Zweiten Weltkrieg vom antifaschistischen Grundsatz getragen, auf den sich fast alle in Italien einigen konnten. Die zweite Republik begann mit dem Berlusconismus 1994 und neuen populistischen Elementen. Meloni will den antifaschistischen Grundsatz nun endgültig überwinden. Sie stellt für mich eine Kehre dar. Zurzeit ist etwa eine konstitutionelle Reform in Planung: Es gibt den Vorschlag, den Präsidenten direkt vom Volk wählen zu lassen, was eine Schwächung des Parlaments bedeuten würde. Dazu insistiert Meloni dauernd auf der ethnischen Reinheit des Volkes, die auf gar keinen Fall kontaminiert werden dürfe. In ihrer Version von Italien gibt es eine unmittelbare Beziehung zwischen der Regierungschefin und dem Volk. Wozu die Presse? Wozu die Journalisten? Wozu die Intellektuellen? Ich und das Volk, das ist das Modell."

Die aktuellen Kriege in der Ukraine und in Gaza offenbaren eine Spaltung innerhalb Europas Rechter, konstatieren die Politikwissenschaftler Oliviero Angeli und Jakub Wondreys in der Welt: "Die Trennlinie zwischen Rechtsextrem und Rechtsaußen lässt sich ideologisch vor allem unter zwei Gesichtspunkten erklären: Antisemitismus und Islamfeindlichkeit. Rechtsextreme Parteien machen in der Regel kein Hehl aus ihren antisemitischen Neigungen. Weitaus salonfähiger als der Antisemitismus, von dem sie sich zumindest vordergründig emanzipiert haben, ist für Rechtsaußenparteien hingegen Islamfeindlichkeit. So nutzten einige dieser Parteien - wie in der Vergangenheit die postfaschistische Alleanza Nazionale in Italien - ihre Hinwendung zu Israel demonstrativ als Zeichen internationaler Verlässlichkeit. Auch deshalb stehen Parteien wie die Alternative für Deutschland und VOX in Spanien fest an der Seite Israels und deuten den Konflikt in Gaza vor allem als Krieg gegen Islamismus."

Bülent Mumay schildert in seiner FAZ-Kolumne die Bredouillen Erdogans: Bei den Kommunalwahlen hatte er jüngst auch verloren, weil ihm die Islamisten Israel-Nähe vorwarfen. Darum empfing er jüngst den Hamas-Führer Ismail Haniyya. Aber nun dies: "US-Präsident Biden empfing Erdogan in den viereinhalb Jahren seit seinem Amtsantritt aller Erwartungen Ankaras zum Trotz bisher nicht im Weißen Haus. Nachdem Ankara seine Blockadehaltung in der Nato aufgegeben hatte, war es ihm in Folge der Wiederannäherung gelungen, einen Termin für den 9. Mai im Weißen Haus zu bekommen. Die um einige Punkte in der Wählergunst willen veröffentlichten Bilder der Freundschaft mit Haniyya aber gefährdeten diesen Termin nun."

Dass sich Frank Walter Steinmeier bei seinem Türkei-Besuch mit Orhan Pamuk, Menschenrechtlern und dem Istanbuler Oberbürgermeister Ekrem Imamoglu traf, war eine wichtige Geste, dass er hingegen die demokratisch gewählten Vertreter der Kurden ignorierte, "ist nicht allein mit Blick auf die türkische Innenpolitik ein schweres Versäumnis", ärgert sich Deniz Yücel in der Welt: "Seit dem Überfall der Hamas auf Israel und dem Krieg im Gazastreifen herrscht in weiten Teilen der türkischen Gesellschaft eine aggressive antiisraelische Stimmung, wovon auch Steinmeier einen Eindruck bekam. Fast überall, wo er in den vergangenen Tagen auftauchte, kam es zu propalästinensischen Protesten. Nicht aber von den Kurden. Sie haben den islamistischen Terror in Gestalt des 'Islamischen Staates' am eigenen Leib erlebt, den IS unter hohem Blutzoll niedergerungen, um hernach vom Westen wieder einmal verraten zu werden. Womöglich traf Steinmeier aus diplomatischer Rücksichtnahme keine Vertreter der Kurden. Ein Treffen wäre ein Zeichen gewesen, sie zu übergehen ist es ebenfalls."

FAZ-Korrespondent Friedrich Schmidt schildert seltsame Verwerfungen im russischen Geistesleben. Der Russischen Staatlichen Geisteswissenschaftlichen Universität in Moskau, kurz RGGU, deren Präsident heute der rechtsextreme Eurasianist Alexander Dugin ist, soll eine "Politische Hochschule Iwan Iljin" angegliedert werden, benannt nach dem nationalistischen Exilphilosophen und Sympathisanten der Nazis. Dummerweise ist Iljin auch ein Lieblingsphilosoph Wladimir Putins, der Iljins Gebeine 2005 exhumieren ließ und nach Moskau zurückbrachte. Gegen die Benennung der Hochschule nach diesem "Faschisten" begehren nun die Kommunisten in der Duma auf - und bemühen dabei genau jene "antifaschistische" Rhetorik, die Putin gegenüber der Ukraine entwickelt hat: "'Unser Land kämpft heute auf allen Fronten mit der Erscheinung des Faschismus und Nationalismus', schrieb der Abgeordnete Wladimir Issakow in einem Gesuch an die Generalstaatsanwaltschaft, die Ansichten Iljins als 'Rehabilitierung des Nazismus' zu prüfen. Es gebe, so Issakow, 'keinen ukrainischen oder deutschen Faschismus, das ist alles eins', daher könne man Iljin nicht 'reinwaschen'."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 25.04.2024 - Europa

In den Niederlanden blickt man gerade etwas verdutzt auf Deutschland, das die Teil-Legalisierung von Cannabis vorantreibt, ohne die organisierte Kriminalität auf dem Schirm zu haben, konstatiert Thomas Kirchner in der SZ. "Experimente sollten gut durchdacht und vorbereitet sein. Keinesfalls sollte man mögliche Folgen einfach ausblenden, nur weil sie nicht ins Konzept passen. Die Kriminalität, die mit dem Drogen-Business einhergeht, ist mehr als ein Randphänomen. In den Niederlanden brutalisiert und zersetzt sie die Gesellschaft. Das muss in Deutschland nicht so kommen. Aber dafür braucht es eine Reform der Reform. Schon bald. Nicht erst, wenn es zu spät ist."

In der NZZ skizziert die russisch-deutsche Schriftstellerin Sonja Margolina die Geschichte der Abtreibungspolitik und der sexuellen Aufklärung in der Sowjetunion. Dabei scheint Putin auch in diesem Punkt eher bei Stalin zu liegen, der das Abtreibungsrecht 1936 aufhob. "Es ist zwar unwahrscheinlich, dass Abtreibung komplett verboten wird. Doch jetzt schon wird ein bürokratisches Karussell aufgebaut, das eine rechtzeitige Unterbrechung der Schwangerschaft unmöglich macht. Die reproduktive Gewalt ist Bestandteil der neuen Familienpolitik in Russland. Dass diese zur Stärkung der Familie führen wird, glauben selbst diejenigen nicht, die sich in Loyalität gegenüber Putin ergehen."