9punkt - Die Debattenrundschau - Archiv

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9punkt - Die Debattenrundschau vom 03.06.2024 - Gesellschaft

Hamas-Verteidiger sollen morgen am Heidelberger Centrum für Transkulturelle Studien, einem großen Institut der Uni Heidelberg, Vorträge halten, berichtet Nils Kottmann in der Jüdischen Allgemeinen. Es handelt sich um die Aktivisten "Mahmoud O.", der auf Berliner Demos mit dem Spruch "Die Hamas wird verboten und keiner weiß wieso" auffiel und Hebh Jamal, die noch am 7. Oktober auf TikTok ihren spontanen Gefühlen Ausdruck gab: "Dekolonialisierung ist schmutzig, Dekolonialisierung ist hässlich, Dekolonialisierung ist nicht hübsch anzusehen. Sie ist furchterregend, aber sie ist absolut notwendig. " Jüdische Studenten machten einen Professor des Instituts und die Uni-Leitung auf die problematischen Figuren aufmerksam: "Die Reaktion des Professors war herablassend... Es sei 'grundsätzlich nachvollziehbar, dass in einem Seminar zu '#Islam: Religious Dynamics in Online Spaces' (so der Name der Lehrveranstaltung, Anm. d. Red.), auch Social Media-Aktivisten zu Worte kommen', so der Professor." Von der Uni-Leitung ist bisher keine Reaktion überliefert. Das Seminar wird auf den Seiten der Uni Heidelberg so angekündigt: Man werde "untersuchen, wie Technologie den muslimischen Diskurs und die muslimische Praxis in verschiedenen Kontexten verändert, neu belebt und erweitert: von Halal-Dating-Apps und gezoomten Freitagsgebeten bis hin zum Meediatisieren von Islamophobie, 'muslimischer KI' und queer-muslimischem Instagram."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 01.06.2024 - Gesellschaft

In der FAZ betrachtet Ahmad Mansour mit Sorge, wie antisemitische Narrative in linken Milieus um sich greifen. Die pro-palästinensischen Studierendenproteste mit ihrem antisemitischen Unterton "sind nicht plötzlich vom Himmel gefallen wie ein Meteoritenschwarm. Es gab eine erhebliche Phase des Vorglühens, ehe es zur aktuellen Eskalation kam." Radikale Islamisten wissen israelfeindliche Entwicklungen im Westen schon seit Jahren für sich zu nützen - und beim Postkolonialismus fallen ihre Bemühungen auf fruchtbaren Boden, warnt Mansour: "Deutsche Politik betont die unverbrüchliche Unterstützung Israels. Viel wird investiert in Gedenkstätten und Bildungsprogramme. Umso entsetzter müssen wir angesichts der jüngsten Entwicklungen fragen, wie es dazu kommen konnte, dass Tausende junge Leute für Gaza auf die Straße gehen, während Kundgebungen für Israel erheblich kleiner bleiben. Das ist nach meiner Beobachtung Folge einer politischen und gesellschaftlichen Schieflage. Nicht nur Unis, auch Schulen und Museen haben die postkolonialen Schwarz-Weiß-Muster aufgegriffen und geben sie an Kinder und Jugendliche weiter. Viele Projekte gegen Rassismus werden mit erheblichen staatlichen Mitteln unterstützt. Bei näherem Hinsehen finden sich dort jedoch oft stereotype antijüdische Narrative, im Gewand der Dekolonisierung und der 'Israelkritik'."

Der Philosoph Thomas Meyer ruft indes in der FAS dazu auf, durchzuatmen und in der allgemeinen Empörung wieder zu einer produktiven Gesprächskultur zurückzufinden. Gerade angesichts der neuen Debatte um die TU-Präsidentin Geraldine Rauch und den TU-Antisemitismusbeauftragen Uffa Jensen (unser Resümee), muss Raum für Diskussion geschaffen werden. Meyer gibt zu, "Wirklichkeit ändert sich nicht, indem man Konsens beschwört. Aber angesichts des sich täglich verstärkenden Antisemitismus und Rassismus in Deutschland, bei deren Befeuerung sich rechte Israel-Freunde und linke Israel-Feinde längst die Hände reichen, ist die Frage, mit wem man dagegen kämpfen will. Doch daran denkt gerade niemand. Es lassen sich Wagenburgmentalitäten auf beiden Seiten feststellen, die nicht gut, schon gar nicht klug sind. Ginge es nicht auch so: 'Wir müssen reden, Sie stehen in der Öffentlichkeit, da ist jedes Wort explosiv!' Oder gerne auch: 'Was ihr erzählt, ist Blödsinn!' Es muss ein Raum geschaffen werden, in dem Jensen und der Zentralrat gleichermaßen sitzen und sich austauschen können."

Mark Schieritz findet es auf Zeit Online völlig übertrieben, den Rücktritt von TU-Präsidentin Geraldine Rauch zu fordern, weil diese antisemitische Tweets auf Twitter geliked hat. Rauch entschuldigte sich und gab an, die Posts nicht genau angeschaut zu haben - dieser unbedachte Umgang mit Social Media zeige vor allem Naivität, meint Schieritz, aber man müsse "sich schon fragen, ob man in einem Land leben will, in dem Social-Media-Profile und Spotify-Playlists durchwühlt werden, um unliebsame Personen an den Pranger zu stellen", findet er: "Der Antisemitismusvorwurf ist in Deutschland - zurecht - ein schwerwiegender Vorwurf. Er kann Karrieren beenden. Gerade deshalb ist es wichtig, dass er gut begründet wird. Und man kann schon fragen, ob mit dem Liken fragwürdiger Beiträge diese Voraussetzungen erfüllt sind. Es gibt zum Beispiel Leute, die die Funktion zum Zweck der Sortierung verwenden (durch das Liken lassen sich einzelne Beiträge in der Masse der gesendeten Tweets identifizieren). Wie auch immer: Ein Herz auf X signalisiert deshalb nicht unbedingt Zustimmung und ist auch nicht immer eine Meinungsäußerung, es garantiert noch nicht einmal, dass man den entsprechenden Beitrag gelesen hat."

In der SZ denkt die Autorin Carolin Emcke mit Hannah Arendt darüber nach, wie man mit Diffamierungen und Diskriminierung umgehen kann und kommt dabei auf die Sylter Gröler zu sprechen. Es stimmt, dass die "ungläubige Empörung" in der Öffentlichkeit größtenteils von "naiver Ahnungslosigkeit" zeugt, meint Emcke, denn viele Menschen erleben tagtäglich noch viel schlimmere Diskriminierung und Hass. Trotzdem ist Vorsicht geboten: "Diese Art des nüchternen Realismus, der Menschenfeindlichkeit als allgegenwärtige Normalität gleichsam erwartet, birgt auch eine Gefahr. Gewiss, es ist empirisch richtig, antisemitische, rassistische, queerfeindliche Stigmatisierungen und Gewalt drohen permanent. Sie gehören faktisch zur Realität von so vielen. Aber sie einfach zu erwarten, wäre normativ falsch. Ich kann und will nicht damit rechnen, angefeindet zu werden."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 31.05.2024 - Gesellschaft

Seit einigen Tagen kursiert in den sozialen Medien ein internationaler und breiter Aufruf von Professoren, vielen prominenten darunter, der sich endlich mal deutlich gegen BDS-Aktivitäten ausspricht: "Unabhängig davon, wie jeder von uns derzeit die Situation vor Ort analysiert und die Aktionen der israelischen Regierung und Armee bewertet, möchten wir klarstellen, dass wir gegen jede Form von Boykott gegen israelische Wissenschaftler und israelische akademische Einrichtungen sind. Wir treten entschieden für die Zusammenarbeit und die Fortsetzung der Arbeit mit ihnen ein. Wir sind auch davon überzeugt, dass die schrittweise, oft subtile Ausgrenzung israelischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler den Grundprinzipien des professionellen Verhaltens und der akademischen Freiheit widerspricht. Darüber hinaus ist ein akademischer Boykott gegen Israel kontraproduktiv für die innerisraelischen Debatten und den israelisch-palästinensischen Dialog." Lanciert wurde der Aufruf von der Philosophin Anne Rethmann und den Historikern Daniel Siemens und Helmut Walser Smith. Zu den Unterzeichnern gehören unter anderen Seyla Benhabib, Steven Pinker, Detlev Claussen,Friedrich Wilhelm Graf, Eva Illouz, Armin Nassehi, Christoph Möllers, Hans Joas und Rahel Jaeggi.

Wie sich die Ausgrenzung verbreitet, zeigt ein Zufallsfund auf Twitter, ein Thread der amerikanischen Journalistin Gabby Deutch, der BDS-Aktivitäten bei amerikanischen Psychotherapeuten aufzeigt: "In mindestens einem großen Online-Forum ist Israel buchstäblich zu einem Lackmustest geworden - und zu einem Zugangshindernis. Eine Facebook-Gruppe für Therapeuten mit einer privaten Praxis mit 25.000 Mitgliedern verlangt seit dem 7. Oktober von allen Mitgliedern, dass sie sich verpflichten, 'gegen Unterdrückung' und 'für Palästina' zu sein." In anderen Gruppen sprechen sich Mitglieder ab, Therapeuten mit "zionistischen Verbindungen" keine Patienten zuzuweisen. Mehr hier.

Die Likes der TU-Präsidentin Geraldine Rauch für israelfeindliche Tweets sind trotz ihrer Entschuldigung nicht ganz ausgestanden. Sie habe sich ohnehin erst entschuldigt, "nachdem die Wissenschaftssenatorin Ina Czyborra sie dazu gedrängt hatte", setzt Thomas Thiel heute in der FAZ nach. Hinzu kommt, dass ihre Likes jetzt von dem von ihr selbst frisch ernannten Antisemtismusbeauftragten Uffa Jensen als "nicht per se" antisemitisch eingestuft worden waren. Aber Jensen ist selber umstritten, denn das der TU angegliederte Zentrum für Antisemitismusforschung, aus dem er kommt, nimmt allenfalls Antisemitismus von rechts wahr, so Thiel: "Die Jüdische Studierendenunion hält Jensen gerade angesichts des grassierenden muslimischen und israelbezogenen Antisemitismus für eine Fehlbesetzung. Das TU-Präsidium hielt dem seine umfangreiche Expertise im Themenbereich Antisemitismus entgegen. Leider erstreckt sie sich nicht auf jene Formen, mit denen jüdische Studenten an den Universitäten konfrontiert sind."

"Wir sind das Volk" rufen jene, die heute Politiker attackieren und manchmal verletzen. Claudius Seidl versucht in der FAZ zu ergründen, auf welche Traditionen sich diese Gewalttäter eigentlich berufen: "Das scheint eine Form des Tocqueville-Paradoxons zu sein (wonach man Rechte erst einmal haben muss, um noch mehr Rechte zu fordern); und zugleich sieht es aus wie eine Karikatur von Rousseaus volonté générale, die ja, gerade weil sie aufs Ganze zielt, den Willen der Mehrheit ignorieren darf. Damals lief das auf Robespierre hinaus; heute sind es Bauern, wütende Kleinstädter oder Schläger, die Rousseau noch nicht einmal zu kennen brauchen."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 30.05.2024 - Gesellschaft

Die TU-Präsidentin Geraldine Rauch hatte auf Twitter Tweets mit antisemitischen Inhalten geliked (unser Resümee). Nach langem Schweigen äußerte sie sich gestern zu den Vorwürfen, berichtet unter anderem die Jüdische Allgemeine. Rauch entschuldigte sich und gab an, sich über die antisemitischen Hintergründe der Tweets nicht bewusst gewesen zu sein. Bei einem der Beiträge, der eine mit Hakenkreuzen beschmierte Figur Benjamin Netanjahus zeigt, habe sie lediglich auf die geschriebene Botschaft geachtet, die einen Waffenstillstand forderte.

Daniel Bleich von den Ruhrbaronen greift die Diskussion um die rassistischen Gröler von Sylt auf (unser Resümee). Dass deren Parolen Konsequenzen haben müssen, sei klar, dass nun aber Personendaten im Netz kursieren, gehe zu weit. Vor allem, weil die mediale und politische Reaktion unverhältnismäßig krasser ausfalle, als wenn es zum Beispiel um Antisemitismus geht: "Statt zu singen, hätten man auf Sylt besser ein Kalifat und den Kampf gegen das Judentum fordern oder antisemitische Parolen brüllen sollen, da hier die Immunreaktion von Staat und Politik deutlich weniger ausgeprägt scheint. Als im Mai über 2.000 Teilnehmer auf der von 'Muslim Interaktiv' organisierten Demo ebendies taten, gab es nur verhaltenen Widerspruch. Von Doxing, öffentlichen Stellungnahmen des Kanzlers oder einer Hetzjagd bei Social Media war keine Spur. Auch wurde nicht diskutiert, ob der Organisator der Demo, Joe Adade Boateng, exmatrikuliert werden solle. Dieser studiert ebenfalls in Hamburg, pikanterweise auf Lehramt."

Es gibt so viele Drogentote wie nie zuvor. Auf Zeit Online fordert Manuel Bogner dazu auf, endlich die nötigen politischen Maßnahmen zu ergreifen und nicht weiter auf Repression zu setzen. Vermehrte Beratungsangebote und betreute Drogenkonsumräume wären eine erste Möglichkeit: "Es gibt noch einige weitere Ansätze, die helfen könnten, aber sie haben alle eins gemeinsam: Sie kosten Geld, und es braucht den Paradigmenwechsel. Süchtige sind keine Kriminelle, sondern Patienten. Portugal hat schon 2001 vorgemacht, wie es funktionieren kann. Drogen sind dort nicht legal, aber wer geringe Mengen besitzt, wird nicht automatisch verfolgt. Stattdessen entscheidet eine Kommission aus einem Sozialarbeiter, einem Psychologen und einem Staatsanwalt, was passieren soll. Das können Strafen wie Geldbußen sein, aber auch Hilfsprogramme für Süchtige. So ist es Portugal gelungen, die Zahl der Toten durch illegale Drogen zu senken."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 29.05.2024 - Gesellschaft

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"Neuer Berliner Antisemitismusstreit" ist der taz-Text überschrieben, in dem Stefan Reinecke auf die Vorwürfe des Zentralrats der Juden gegen Uffa Jensen, den neuen Antisemitismusbeauftragten der TU Berlin, der gerade das Buch "Was ist Antisemitismus" herausgegeben hat, zurückkommt (Unser Resümee). "Jensen sagte der taz, er begreife den Angriff auf ihn 'als Ausdruck eines politischen Konfliktes, um unterschiedliche Positionen zu Israel und auf Israel bezogenen Antisemitismus'. Die IHRA definiere 'Antisemitismus als Wahrnehmung'. Das leuchte ihm als Antisemitismusforscher nicht ein. Als Forscher muss er sagen können, dass die IHRA-Definition 'nicht hilfreich ist'. (...) Er werde das Amt antreten, so Jensen zur taz, der zuletzt ein Buch über antisemitische Morde und Rechtsterrorismus in der BRD veröffentlicht hatte. Auch das TU-Präsidium sieht keinen Grund, die Ernennung rückgängig zu machen."

Die Jüdische Allgemeine ist nach wie vor nicht froh mit der Ernennung Jensens und spürt einigen Likes der TU-Präsidentin Geraldine Rauch für "israelkritische" Tweets nach.

Am Montag fand in Paris eine ziemlich große Demo für einen "Waffenstillstand" statt. Der Online-Magazin HuffPost zeigt den Eifer, mit dem dabei Plakate von Geiseln abgerissen wurden.


Ronen Steinke hat in der SZ wenig Mitleid mit den Partygästen, die auf Sylt rassistische Parolen grölten (unser Resümee) und jetzt zum Teil ihre Jobs verloren. Eine digitale Hetzjagd dürfe es allerdings nicht geben: "Nun wäre niemandem gedient, wenn die betreffenden Personen mit ihrer Privatadresse zur Jagd freigegeben würden. Das wäre gefährlich und tendenziell kriminell - 'Gefährdendes Verbreiten personenbezogener Daten' heißt diese Form von digitaler Selbstjustiz, die nie gerechtfertigt ist. Aber, dass sich die Öffentlichkeit von dem öffentlichen Auftritt wenigstens ein Bild macht? Bitte nicht jammern. Muss man sich vorher überlegen, bevor man so etwas tut."

Nach der Ansicht von Jens Jessen hat die Kritik an den Idioten von Sylt den Rahmen des Angemessenen hingegen längst hinter sich gelassen, wie er in der Zeit schreibt: Immerhin geht es hier um keinen Gewaltexzess, sondern eine geschmacklose Trottelei: "Symbolische Handlungen genauso scharf oder schärfer zu verurteilen als Gewalttaten, ist immer fatal", findet Jessen. "Hier verrät es darüber hinaus eine geradezu kuriose Weltfremdheit", denn das Video ist nur Ausdruck eines seit Monaten auf TikTok grassierenden Trends, der "bereits mehrmals auf die reale Welt übergegriffen hat. ... TikTok ist die natürliche Heimat der AfD", die dort "rechtsradikale Ideen in beschwingten Zeitgeist und Pop verwandelt."

Heute jährt sich der Brandanschlag in Solingen, erinnert indes Didem Ozan auf Zeit Online, bei dem vor 31 Jahren fünf Menschen starben und vierzehn, teilweise schwer, verletzt wurden. Ozan erzählt, wie sie damals diese Zeit erlebte: "Falsch, so unerträglich viel falsch gemacht haben die deutschen Regierungen und die deutschen Behörden. Wir kennen die Geschichten der Opfer noch kaum. Wir müssen ihnen den Raum geben, der ihnen gebührt. Die Geschichten derer, die nach Deutschland kamen, um hier ein besseres Leben zu führen, sind immer wieder unheilvoll mit der Geschichte rechter Gewalt verbunden."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 28.05.2024 - Gesellschaft

Dass Anwenden falscher Pronomen gilt als Gewalt, aber "From the river to the sea" und "Intifada" darf man einfach so brüllen?, fragt Mirna Funk in der Welt Kollegen wie Charlotte Wiedemann (taz) und Patrick Bahners (FAZ), die auf X derartige Rufe als nicht zwingend gewalttätig verteidigen. Funk erinnert: "Was Juden denken, fühlen, wissen, spielt in der deutschen Mehrheitsgesellschaft und insbesondere bei den Intellektuellen keine Rolle. Ununterbrochen wird Juden die Definitionshoheit über die eigene Identität, über das eigene Leben und Schicksal entzogen - so als seien sie als Gruppe nicht mehr zurechnungsfähig. Getarnt als ein großväterliches Über-den-Kopf-Tätscheln - 'Lass mich mal, ich mach das schon!' - ist dieses Verhalten aber eigentlich pure, gewalttätige Ignoranz. Die jüdische Community muss die täglich herausgeschrieenen Vernichtungsfantasien von Aktivisten und Studenten aushalten - und sich zugleich sagen lassen, dass sie mal bloß nicht überreagieren sollte. Nein, nein, die wollen euch nicht vernichten, die wollen nur die Palästinenser befreien!"

Die größte antisemitische Bedrohung in Deutschland geht laut dem "Lagebild Antisemitismus" des Bundesamts für Verfassungsschutz nach wie vor vom Rechtsextremismus aus. Was die FAZ aus dem Bericht zitiert, klingt aber so naiv, als hätte sich das Amt mit anderen Spielarten des Antisemitismus noch gar nicht beschäftigt: "Es seien zudem zeitweilige Allianzen zwischen Gruppen aufgefallen, die sonst wenig Schnittmengen hätten. So seien etwa die Überzeugungen von Islamisten und Linksextremisten in wesentlichen Aspekten unvereinbar; doch nun hätten sie temporär ihre grundsätzliche Ideologie dem antisemitischen Ideologieelement untergeordnet."

Man kann den Teufel natürlich auch mit dem Beelzebub austreiben. Die TU Berlin hat Uffa Jensen vom Zentrum für Antisemitismusforschung als Antisemitismusbeauftragten auserkoren - und die Jüdische Gemeinde protestiert laut der Jüdischen Allgemeinen. "Uffa Jensen gehört ... zu den Unterzeichnern der Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus, der zufolge etwa die BDS-Bewegung genauso wenig antisemitisch ist wie Israel einen 'Apartheidstaat' zu nennen." Das wäre natürlich perfekt, um weitere eventuelle Uni-Besetzungen zu entschärfen.

Hier sind einige der Graffiti aus der HU-Besetzung dokumentiert.

9punkt - Die Debattenrundschau vom 27.05.2024 - Gesellschaft

Große Empörung löst ein Video aus Sylt aus, bei dem in einer Luxusbar zum Stampfen eines Partyschlagers Parolen wie "Ausländer raus" gegrölt werden. Das ist leider kein Einzelphänomen, sondern geradezu ein Trend, berichten Jean-Philipp Baeck und Anne Fromm in der taz: "Bekannt wurde die rechte Vereinnahmung des Partyhits im Oktober 2023, als eine Gruppe Männer auf dem Erntefest im vorpommerschen Bergholz bei dem Gesang gefilmt wurden. Seither häufen sich die Vorfälle, deutschlandweit. Auch auf Sylt war über Pfingsten der Fall im Pony nicht der einzige: Im benachbarten Luxusschuppen Rotes Kliff wurde ebenfalls die Parolen zu dem Song gegrölt, wie die Betreiber mitteilten."

Lisi Maier, Co-Direktorin der Bundesstiftung Gleichstellung, betont im Gespräch mit Patricia Hecht von der taz die Unabhängigkeit ihrer Institution, auch wenn sie vom Bundesfamilienministerium finanziert wird. Zweck der Stiftung ist die Förderung der Gleichstellung von Frauen und Männern in Deutschland. Aber Maier beruhigt auch in diesem Punkt: "Das Stiftungsgesetz beruht auf Artikel 3, Absatz 2, des Grundgesetzes: Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Auch wenn das binär formuliert ist, erkennen wir die gesellschaftliche Realität und das geänderte Personenstandsrecht an. Wir bilden zum Beispiel in unserer Öffentlichkeitsarbeit mehr als zwei Geschlechter mit dem Genderstern ab."

Im Spiegel versucht Rene Pfister Judith Butler zu fassen. Es gelingt ihm auch nach Lektüre ihres neuen Buchs "Who's Afraid of Gender?" nicht. Eigentlich ist Butler an "konkreter Politik nur wenig interessiert", meint er. "Sie ermunterte ihre Adepten, den Widerstand gegen tradierte Geschlechterrollen als Performance zu betrachten, als lustvolle Verweigerung, sich der 'heterosexuellen Matrix' zu unterwerfen. Es ist eine unheimlich reizvolle Form des politischen Engagements. Wer will sich noch in die Mühsal des politischen Tagesgeschäfts begeben, in den Kampf um Gesetze und Verordnungen, wenn man doch mit den Pronomen 'they/them' signalisieren kann, auf der richtigen Seite zu stehen? ... Der von Butler mitinitiierte Streit, was genau eine Frau ausmacht, hat möglicherweise im linken Lager so viel Kraft absorbiert, dass die Konservativen in den USA mühelos ihre Pläne durchsetzen konnten. Am 24. Juni 2022 kippte der amerikanische Supreme Court das bundesweite Recht auf Abtreibung in den Vereinigten Staaten. Es war ein politischer Erfolg, der über Jahrzehnte mit ebenjener zähen politischen Kärrnerarbeit vorbereitet worden war, die aus Sicht vieler junger Feministinnen ebenso uninspirierend wie fruchtlos ist. Wenn man so will, hat Butler die politische Linke nicht nur merkwürdig entpolitisiert, sondern auch gegen sich selbst in Stellung gebracht."

Yannic Walther erinnert in der taz an ein äußerst missliches Kapitel Berliner Stadtpolitik: Vor zwanzig Jahren verkaufte die Stadt unter Bürgermeister Wowereit und Finanzsenator Sarrazin Zehntausende kommunale Wohnungen an private Investoren für'n Appel und 'n Ei: "Die GSW mit ihren 65.700 Wohnungen geht für gerade mal 405 Millionen Euro an ein Konsortium der amerikanischen Immobilienfonds Whitehall und Cerberus. Dabei übernehmen die Käufer auch die Unternehmensschulden von über 1,5 Milliarden Euro." Also, ähem, 28.919 Euro pro Wohnung, ungefähr so 450 Euro pro Quadratmeter? Grund war die angespannte Finanzlage der Stadt: "Infolge des Berliner Bankenskandals muss das Land mit einer Kapitalzuführung und der Übernahme von Milliardenrisiken aus den Immobiliengeschäften der Bank einspringen. Eine erfolgreiche Verfassungsklage der Opposition gegen den von SPD und PDS vorgelegten Landeshaushalt zwingt die noch verhältnismäßig neuen Regierungspartner schließlich zu weiteren Einsparungen. 'Sparen, bis es quietscht' ist das von Wowereit ausgegebene Motto für die kommenden Jahre."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 24.05.2024 - Gesellschaft

75 Jahre Grundgesetz, schön und gut. Aber gerade der Artikel 5, der die Meinungsfreiheit garantiert, ist heutzutage angekratzt, meint der Rechtsprofessor Christoph Degenhart in der FAZ - und dies durch den Staat selbst. Zum einen, so Degenhardt, sei der Staat eifrig dabei, "die Grenzen der Strafbarkeit zu verschieben", etwa wenn es um die Beleidigung von Politikern geht. Und dann stört ihn immer intensiveres "staatliches Informationshandeln durch unmittelbare wie mittelbare mediale Aktivitäten staatlicher Stellen". In diesem Kontext sieht Degenhardt auch das geplante Demokratiefördergesetz, das Organisationen der angeblichen Zivilgesellschaft sozusagen verstaatlichen will. "So begrüßenswert das Anliegen erscheinen mag: Nicht nur sind staatlich alimentierte Nichtregierungsorganisationen ein Widerspruch in sich. Staatliche Finanzierung bedeutet Staatsnähe, schafft Abhängigkeiten und staatliches Einflusspotenzial."

Erstaunlich religiöse Momente erkennt Thomas von der Osten-Sacken in der Jungle World in der Gazamanie heutiger Demonstranten: "Gaza, das ist das Gute, das leidet und gequält wird - auch das ein immer wieder kehrendes religiöses Motiv - und Israel das Böse, das es quält. Gaza ist quasi Jesus in unserer Zeit. Und das macht diese ganze Bewegung so ungeheuer problematisch, denn in ihr aktualisieren sich ganz alte europäische Traditionen, in denen die Juden als Jesusmörder eine zentrale Rolle spielten. By the way, viele Islamisten haben diese Idee inzwischen übernommen, schließlich ist Jesus der zweitwichtigste Prophet im Islam, während in der Szene daran gearbeitet wird, aus Jesus sozusagen den ersten Palästinenser zu machen."

Gestern wurde das kurzzeitig von antiisraelischen Demonstanten besetzte Institut für Sozialwissenschaften der HU Berlin geräumt. Uni-Präsidentin  Julia von Blumenthal betonte, dass sie die Räumung nur auf Weisung von ganz oben verlanlasst hatte. Bei der Besetzung wurden missliebige Professoren auch direkt angegangen, wie etwa der Migrationsforscher Ruud Koopmans.
Indien mag nach außen wie ein riesiges Land der Vielfalt erscheinen, nach innen ist es jedoch fast monolithisch in seinem Glauben an Premierminister Narendra Modi und das Kastensystem, schreibt in der NZZ der in Oxford lehrende Historiker Pratinav Anil: "Bhimrao Ramji Ambedkar, der Verfasser der indischen Verfassung und einer der wortgewaltigsten Kritiker des Hinduismus, ging so weit, das Kastensystem als Kern des Glaubens zu bezeichnen. Es handle sich um ein System der 'abgestuften Ungleichheit', in dem die Gesellschaft durch 'aufsteigende Grade des Hasses und absteigende Grade der Verachtung' zusammengehalten werde. Darin kenne jeder seinen Platz. Niemand komme auf Ideen, die über seinen Stand hinausgingen." Damit kommen übrigens nicht nur die meisten Hindus gut klar, meint Anil. "Das Kastensystem ist Muslimen, Sikhs und Christen keineswegs fremd. Im indischen Islam findet sich eine Kopie des hinduistischen Kastenwesens: Es gibt die Ashraf, die oberen Kasten, die so tun, als würden sie von nahöstlichem Adel abstammen; dann die Ajlaf, welche minderen Kasten angehören, und schliesslich die Arzal, 'Unberührbare' und Ausgestoßene."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 23.05.2024 - Gesellschaft

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Buch in der Debatte

Im Interview mit der Berliner Zeitung wünscht sich die Berliner Autorin Sineb El Masrar eine gelassenere Diskussionskultur in Deutschland - ein Thema, dem sie sich auch in ihrem neuen Buch "Heult leise, Habibis" widmet: Zu viel Emotion, zu viel Angstmacherei beherrsche oft die Debatten. Beispiel Gazakrieg: "Man kann mit diesen Menschen sprechen, aber wenn jemand in seinen Wahnvorstellungen bleiben will, kann man mit dieser Person nur über ihre persönlichen Probleme reden. Wir müssen diese Menschen nach ihrer Geschichte fragen: Was hat dieser Konflikt mit dir zu tun? Wieso bist du hier? Was treibt dich an? Und letztlich wird man merken, dass es nicht um Gaza geht. Den Menschen im Gazastreifen ist mit solchen Aktionen nicht geholfen. Die Motivation dieser Leute ist eine durch und durch egoistische. Es geht allein um ihr Gefühl, auf der vermeintlich richtigen Seite zu stehen. Und genau damit muss man sie konfrontieren. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass diese Menschen sich endlich mit ihren persönlichen Problemen auseinandersetzen müssen. Die Weltpolitik ist nur ein Mittel zum Zweck und dieses Verhalten ist verantwortungslos."

Auch Eva Menasse ruft heute in der Zeit zu mehr Gelassenheit auf.

9punkt - Die Debattenrundschau vom 22.05.2024 - Gesellschaft

Im Tagesspiegel-Interview mit Tessa Szyszkowitz äußert sich der Nahost-Experte Rashid Khalidi zu den Studentenprotesten an der Columbia-University. Er sieht durch die Einsätze der Polizei die Redefreiheit bedroht, den Protest sieht er als legitim an - ein Problem mit Antisemitismus kann er nicht erkennen: "Die Studierenden haben sich der Gewaltlosigkeit verschrieben, sie sind rücksichtsvoll. Sie bestehen nur auf ihr verfassungsmäßiges Recht auf freie Meinungsäußerung, um gegen das Einspruch zu erheben, was sie als Völkermord in Gaza ansehen. Wir hatten auch Studenten, die israelische Flaggen schwenkten. Es gab Leute, die die Demonstranten Hamas-Terroristen nannten. Das ist ihr Recht, so etwas zu behaupten. Aber den Studierenden das Recht abzusprechen, protestieren zu dürfen, halte ich für falsch."

Pascal Bruckner erinnert derweil in der NZZ an die erschreckenden Szenen, die sich kürzlich vor der Universität abspielten: Anhänger der radikalen "Students for Justice in Palestine" sangen vor dem Tor der Columbia-University Hymnen auf die Kassam-Brigaden. Die Palästinenser, schreibt Bruckner, sind für Teile der Linken "zu den neuen Verdammten der Erde geworden" und zwar "weil sie nichts anderes als eine Idee sind, eine Abstraktion, auf die man sein Ideal der Gerechtigkeit projizieren kann. Und das unabhängig vom historischen oder geografischen Kontext." In dieser "neuen Mythologie", so Bruckner, "ist der Palästinenser der letzte gute Wilde, der selbst dann unschuldig ist, wenn er seinen Opfern die Kehle durchschneidet. Sein Terrorismus wird mit seiner angeblichen Verzweiflung entschuldigt. Er ist die große christliche Ikone, die von der extremen Linken getragen wird. Die Seligsprechung dauert seit siebzig Jahren an. Man erweist jedoch der Sache der Palästinenser einen schlechten Dienst, wenn man ihren Kampf um Selbstbestimmung zum Jihadismus erklärt, der für die Mehrheit der westlichen und arabischen Welt ein Schreckgespenst darstellt."