9punkt - Die Debattenrundschau - Archiv

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9punkt - Die Debattenrundschau vom 02.05.2024 - Politik

Der israelische Historiker Dror Wahrman macht sich in einem "Brief aus Israel" in der FAZ große Sorgen um die israelische Gesellschaft. Seit dem 7. Oktober und angesichts des fortdauernden Krieges schwinde der Zusammenhalt immer mehr, die Fronten verhärteten sich. Auch wenn viele es nicht wahrhaben wollen, meint Wahrmann, es stellt sich die bittere Erkenntnis ein, dass "Israel im Begriff ist, den Krieg zu verlieren. Wir sind - trotz der mantraartig verkündeten Parole des 'Vereint werden wir siegen' - nicht vereint, und ein Sieg ist nicht in Sicht… Der bemerkenswerte Erfolg beim Abfangen der Raketen und Drohnen, der ein altes Selbstbild von Mut und Tatkraft evoziert, kann die neue Existenzangst nicht schmälern. Nach Jahrzehnten, in denen jede Regierung die Bürger mit der Versicherung ruhigstellte, die Bestrebungen und Rechte der Palästinenser könnten auf alle Zeit ignoriert werden, vermag nur eine schmerzhafte Einsicht in die Grenzen militärischer Macht eine radikale Neuorientierung hinsichtlich der langfristigen politischen Lösungen herbeizuführen. Die Weltgemeinschaft sollte Israel dabei unterstützen - freundlich, aber streng."

Ebenfalls in der FAZ gibt Frauke Steffens einen Überblick über die Ereignisse auf dem Campus der Columbia-Universität, wo in der Nacht zum ersten Mai die Protest-Camps pro-palästinensischer Studierender von der Polizei geräumt wurden. Von vielen Seiten wird diese Entscheidung der Universitätspräsidentin Minouche Shafik kritisiert und als zu harsch verurteilt. Auf der anderen Seite stehen die Proteste wegen antisemitischer Losungen in der Kritik (unser Resümee): "Gestritten wird darüber, wie repräsentativ etwa ein Sprechgesang ist, der in der vergangenen Woche vor den Mauern des Columbia-Campus zu hören war: 'Hamas, mach uns stolz'. ... Allerdings tauchte von Khymani James, der anfangs als offizieller Vertreter der Studenten mehrere Pressekonferenzen gegeben hatte, ein Video auf, in dem er Juden aufs Übelste beschimpfte und sagte: 'Zionisten verdienen zu sterben.'"

Erleben die USA einen neuen "Vietnam-Moment" fragen Lukas Hermsmeier, Kerstin Kohlenberg, Maximilian Probst und Anna Sauerbrey angesichts der massiven Studentenproteste an der Columbia-University, aber auch an vielen weiteren Universitäten im Land? Vor allem die Studierenden selbst ziehen den Vergleich zu den 1968er-Protesten gegen den Vietnam-Krieg, so die Autoren, der hinkt allerdings unter anderem angesichts der antisemitischen und gewaltverherrlichenden Slogans, die skandiert werden. Für die Demokraten und Joe Biden könnten die Proteste allerdings zum Verhängnis werden: "Die Studenten beschimpfen ihn als 'Genocide Joe'. Überall, wo er auftaucht, ob auf einer Spendenveranstaltung in New York oder der großen jährlichen Veranstaltung der politischen Korrespondenten in Washington am Wochenende, wird demonstriert. ... Die Republikaner nutzen die Lage."

Israel wird nicht (nur) aus antisemitischen Gründen von der Linken gehasst: Postkoloniale Linke können es einfach nicht ertragen, dass ein demokratischer Staat wie Israel auch mal Gewalt anwenden muss, um seine Bevölkerung zu schützen, argumentiert die Soziologin Gesa Lindemann in einem ausführlichen Beitrag auf Zeit Online. "Das Problem besteht darin, dass innerhalb der Linken nahezu durchgängig der sachliche Zusammenhang von Gewalt, Vergesellschaftung und Gesellschaftskritik verfehlt wird. Soweit ich sehe, gibt es keinen plausiblen Grund anzunehmen, dass gesellschaftliche Ordnung ohne Gewalt überhaupt möglich ist. Wenn man sich dieser Realität stellt, geht es nicht darum, wie eine gewaltfreie Ordnung erreicht werden kann, in der alle in Frieden leben, sondern wie Gewalt geordnet wird und welche normativen Implikationen verschiedene Arten, Gewalt zu ordnen, für die Gesellschaft haben. In der Bearbeitung dieser Frage hat die Linke versagt. (...) Gewalt richtet sich gegen den leidensfähigen individuellen menschlichen Körper, dessen Freiheit und Würde. Gewalt ist dabei grundsätzlich als ein, wenn nicht das Übel zu begreifen."

In der Zeit schildert der Schriftsteller Maxim Biller sein Zusammentreffen mit dem New-York-Times-Journalisten Jason Farago und macht deutlich, warum er solch ein Interview wohl nicht mehr führen wird: "Sechs Wochen später erschien Jasons Artikel. Das rätselhaft falsche Bild, das er von Deutschland zeichnete, war das einer philosemitischen Halbdiktatur, in der allein das Flüstern des Wortes 'BDS' zur völligen Entrechtung und bald auch Deportation führte, wo angeblich die ehemalige Ökoaktivistin Greta gecancelt war, was immer das hieß. The failing New York Times? Vielleicht. Naziporno? Bestimmt. Und von meiner lustigen Deborah-Feldman-Beschimpfung natürlich keine Spur! 'Das wird mir mein Redakteur niemals erlauben', hatte Jason beim Abschied zu mir im Hackeschen Hof traurig gesagt, bevor er draußen in einer riesigen Wolke von amerikanischen Touristen hoffentlich für immer aus meinem Leben verschwand."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 30.04.2024 - Politik

Moritz Pieczewski-Freimuth unterhält sich für hpd.de mit Emil Mink vom "Mideast Freedom Forum Berlin" (MFFB) über die Frage, warum die deutsche Politik oft nach wie vor eine so unscharfe Position zum iranischen Regime einnimmt und nicht mal einschlägige Organisationen als Terrororganisationen einstuft. Mink macht dafür unter anderem "Netzwerke regimetreuer Lobbyisten" in Thinktanks und regierungsnahe Organisationen mitverantwortlich: "Vergangenes Jahr hat eine Recherche des Oppositionssenders Iran International offen gelegt, dass 2014 während einer wichtigen Phase in den Verhandlungen um das Atomabkommen mit der Islamischen Republik ein regimetreues Netzwerk von Wissenschaftlern und Politikberatern ins Leben gerufen wurde, das die öffentliche Meinung in Nordamerika und Europa zu Gunsten des Regimes beeinflussen sollte. Zum Teil mit erheblichem Erfolg." Auch im Auswärtigen Amt habe das Netzwerk Einfluss - genauer wird Mink allerdings hier nicht.

Die Iraner wollen keinen Krieg gegen Israel führen, glaubt im Interview mit der taz der iranische Historiker Arash Azizi. Krieg sei viel zu unpopulär in der iranischen Bevölkerung. Ebenso wie die Unterdrückung der Protestbewegung, die wenige Stunden vor dem israelischen Raketenangriff auf Israel verstärkt wurde: "Seitdem gab es wieder viele Verhaftungen und Toomaj Salehi, der beliebte Rapper, wurde zum Tode verurteilt. Diese Einschüchterungstaktik ist besorgniserregend. ... Wie kann man Krieg gegen Israel und die iranischen Frauen am selben Tag beginnen?" Ingesamt seien die Iraner nicht besonders an den Palästinensern interessiert, meint Azizi: "Viele Iraner sind kritisch gegenüber der arabischen Welt. Sie sehen arabische Länder als traditionelle Rivalen Irans. Das Land wurde im siebten Jahrhundert von Arabern überfallen und hat eine sehr komplizierte historische Beziehung zu den arabischen Nachbarn. In der iranischen Gesellschaft gibt es wahrscheinlich mehr Feindseligkeit gegenüber Arabern als gegenüber Juden oder Israelis."

Der Krieg in Gaza spielt kaum jemandem so in die Hände wie dem Iran, meint der in Teheran geborene Schriftsteller Behzad Karim Khani in der SZ: "Netanjahus Koalition manövriert Israel mit ihrem Rache- und Vernichtungskrieg in Gaza derzeit immer weiter in die internationale Isolation und destabilisiert das Land auf eine Weise, wie es die Mullahs wohl niemals geschafft hatten." Dass das westliche "Klischee" vom "unberechenbaren" Iran nicht haltbar ist, dürfte "schnell auffallen, wenn man nur ein paar Beobachtungen macht und Fragen stellt: Weshalb hielt Iran in Russlands Tschetschenienkrieg dem Kreml die Treue, statt an der Seite seiner moslemischen Glaubensbrüder zu stehen? Warum finden in der iranischen China-Politik die moslemischen Uiguren nicht einmal Erwähnung? Warum unterstützte Iran im Konflikt zwischen dem schiitischen Aserbaidschan und Armenien die christlichen Armenier? Woher kommt die Nähe des Regimes zu den sozialistischen Ländern Venezuela oder Kuba, während doch Sozialisten in Iran verfolgt werden?"

Israel manövriert sich zunehmend in eine "Sackgasse", meinen auch Shimon Stein und Moshe Zimmermann in der FR: "Netanjahus Regierung blockiert - von einem Staat Palästina darf keine Rede sein, und die Autonomiebehörde käme nicht, auch wenn sie unter neuer Führung stünde, als Partner in Frage. Genau diese Haltung schuf ja die Situation, die den 7. Oktober möglich machte: Hamas auf Kosten der Autonomiebehörde starkzumachen."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 27.04.2024 - Politik

"'Wir machen euch fertig', rappte er. 'Sucht euch schon mal ein Rattenloch.'" Der Rapper Toomaj Salehi hatte keine Angst, dem iranischen Regime den Stinkefinger zu zeigen. Nachdem er bereits mehrmals im Gefängnis saß, ist er jetzt zum Tode verurteilt worden, berichtet Raphael Geiger in der SZ. "Wahrscheinlich ist es die Angstfreiheit der Rapper, öffentlich auf Instagram und Youtube, von der sich die Mullahs provoziert fühlen. Der erste Teilnehmer der Proteste, den das Regime hinrichten ließ, war Ende 2022 der Rapper Mohsen Shekari. Ein anderer, Saman Yasin, wurde zum Tod verurteilt, später begnadigt, im Gefängnis sitzt er noch immer. Er meldete sich kürzlich mit einem Brief: 'Nehmt endlich auch mein Leben', schrieb er. 'Beendet es.' Zeilen, die davon erzählen, wie es ihm geht - in der Zelle eines Regimes, das foltert und tötet. Allein 2023 sollen in Iran mindestens 834 Menschen hingerichtet worden sein."

Im Libanon wird es für die syrischen Flüchtlinge, die immer mehr werden, ungemütlich, berichtet Christoph Ehrhardt in der FAZ. "Das Schlagwort 'Zeitbombe' fällt immer wieder. Und auch westlichen Diplomaten und Mitarbeitern von Hilfsorganisationen bereitet eines Sorge: die Demographie. Denn inzwischen bekommen schon jene Flüchtlinge Kinder, die einst selbst als Flüchtlingskinder gekommen sind. So wächst die syrische Bevölkerung in Libanon schneller als etwa die christlich-libanesische, was großes Unbehagen hervorruft. Demographische Fragen sind in Libanon hochpolitisch. Posten und Macht werden nach einem Proporzsystem unter Christen, Schiiten, Sunniten und Drusen verteilt. Die Libanesen haben auch den Zuwachs der palästinensischen Flüchtlinge im Kopf, die vor Jahrzehnten ins Land kamen. Anfangs waren es 3000, heute sind es hundertmal so viele. So gilt eine Integration der syrischen Flüchtlinge - anders als in der Türkei - als völlig ausgeschlossen. ... Allerdings leben inzwischen viele syrische Jugendliche im Land, die nur Libanon als ihre Heimat kennen. Wie sollen sie sich fühlen, wenn man ihnen zuruft, sie sollten nach Hause gehen? 'Sie werden nicht ewig hinnehmen, dass auf ihnen herumgetrampelt wird', heißt es von einer besorgten Stimme aus Beiruter Diplomatenkreisen. 'Gott bewahre, was passiert, wenn die Syrer anfangen, sich zu wehren.'"

9punkt - Die Debattenrundschau vom 26.04.2024 - Politik

Der iranische Rapper Toomaj Salehi galt durch seine Songs und seine Präsenz auf Demonstrationen als eines der Symbole der "Frauen Leben Freiheit"-Bewegung. Das iranische Regime hat ihn jetzt zum Tod verurteilt, nachdem er schwer gefoltert worden war, berichtet Daniela Sepheri in der taz. Das Regime ließ auch ein Video mit einem erzwungenen Geständnis zirkulieren - oder versuchte es zumindest: "Das Video wurde aufwendig zusammengeschnitten, mit Bildern aus seinem letzten Musikvideo. Das Regime wollte die Protestbewegung dadurch demoralisieren. Doch Salehis Fans waren sich schnell einig: Dieser Folterbeweis sollte nicht verbreitet werden. Kaum jemand teilte das Material, sodass das Video bis heute schwer zu finden ist. Seine Anhänger*innen unterstützen ihn auch in schwierigsten Zeiten. Für sie ist er nach wie vor ein Held, ein Symbol der Protestbewegung."

Richard Herzinger erklärt in seiner jüngsten Perlentaucher-Kolumne, was unter "Lawfare" zu verstehen ist: Kriegsführung mit juristischen Mitteln, Staaten des "Globalen Südens" überziehen Demokratien mit Prozessen vor internationalen Gerichten, um sie zu diskreditieren: "So brachte jüngst Nicaragua die Dreistigkeit auf, Deutschland vor dem Internationalen Gerichtshof zu verklagen, weil sich dieses mit seiner Unterstützung für Israel der Beihilfe zum 'Völkermord' in Gaza schuldig mache. Nicaragua wird nicht nur von einem kleptokratischen Diktator, dem ehemaligen sandinistischen Revolutionsführer Daniel Ortega, beherrscht, der Oppositionelle und Abweichler brutal verfolgen lässt. Es gehört auch zu den wenigen Staaten, die in den UN gegen die Verurteilung des russischen Vernichtungskriegs in der Ukraine gestimmt haben."

Laut dem "Armed Conflict Location & Event Data Project" (ACLED) nimmt die Gewalt gegen die Zivilbevölkerung in Gewaltkonflikten seit 2007 stetig zu, schreibt Judith Vorrath von der Stiftung Wissenschaft und Politik in der SZ und erklärt: "Die Bindewirkung des humanitären Völkerrechts scheint zu schwinden. Viele innerstaatliche Konflikte sind internationalisiert. Das heißt: Mindestens ein Drittstaat unterstützt eine Konfliktpartei. Zählt man die Konflikte, in denen dies direkt durch die Bereitstellung von Kampftruppen geschah, starben seit 2015 mehr Menschen in solchen bewaffneten Konflikten als in nicht-internationalisierten, darunter prominente Fälle wie Syrien oder Jemen, aber auch die Demokratische Republik Kongo. In einigen Fällen kann man von Stellvertreterkriegen sprechen; eine Rückkehr zur Logik des Kalten Krieges ist dies aber nicht. Vielmehr ringt neben Großmächten eine wachsende Zahl von mittleren Mächten um Einflusssphären, besonders in Afrika und dem Nahen Osten. Westliche Staaten haben nicht nur an Einfluss eingebüßt."
Stichwörter: Salehi, Toomaj

9punkt - Die Debattenrundschau vom 25.04.2024 - Politik

"Tax the rich", fordern in mehreren Medien, unter anderem im Spiegel und dem Guardian, die Politiker Carlos Cuerpo, Enoch Godongwana, Fernando Haddad und Svenja Schulze. Genauer: Sie fordern eine globale Steuer auf Milliardenvermögen: "Es ist an der Zeit, dass die internationale Gemeinschaft mit dem Kampf gegen Ungleichheit Ernst macht. ... Und genau mit diesen Zielen hat Brasilien als Mitglied der Gruppe der 20 (G20) zum ersten Mal einen Vorschlag für eine globale Mindestbesteuerung von Milliardären eingebracht. Sie stellt eine notwendige dritte Säule dar, um die Verhandlungen über die Besteuerung der Digitalwirtschaft und die globale Mindeststeuer von 15 Prozent für multinationale Unternehmen zu ergänzen. Der renommierte Ökonom Gabriel Zucman hat dargelegt, wie diese funktionieren könnte. Weltweit gibt es derzeit ungefähr 3.000 Milliardäre. Die Steuer könnte als Mindestabgabe in Höhe von zwei Prozent auf das Vermögen von Superreichen erhoben werden. Sie würde nicht für Milliardäre gelten, die bereits einen angemessenen Beitrag bei der Einkommenssteuer entrichten. All jene aber, denen es gelingt, Einkommenssteuern zu umgehen, würden so verpflichtet werden, mehr zum Gemeinwohl beizutragen."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 24.04.2024 - Politik

Dass es sich bei AfD-Politikern um vaterlandslose Gesellen handelt, war ja schon länger klar. Nun zeigt sich, dass man sich nicht nur von Putins Russland, sondern auch von Xi Jinpings China gern umgarnen lässt. Jian G., der Assistent des prominenten AfD-Europaabgeordneten Maximilian Krah, ist wegen Spionage festgenommen worden. Hinweise auf Krahs ausgesprochen China-freundliche Haltung gab es schon vorher, berichten Thomas Gutschker und Friederike Haupt in der FAZ: "etwa ein Video aus dem Jahr 2021, inzwischen gelöscht, in dem Krah Tibet als Ort des friedlichen Zusammenlebens und Kinderlachens gepriesen haben soll; eine Reise nach China zwei Jahre zuvor, der er ein Schreiben an die Bundestagsfraktion der AfD folgen ließ, in dem er sich über deren harte Haltung gegenüber Huawei beklagte. Als EU-Abgeordneter war er im November 2019 nach Peking geflogen, per Businessclass, und hatte sechs Tage in Luxushotels verbracht; die Hotelkosten übernahmen Stadtverwaltungen."

Auf den Geisteswissenschaften-Seiten der FAZ sucht Armin Nassehi nach Auswegen aus einer "Diskurssituation, in der man nur noch streng binär ausschließlich für oder gegen Israel oder die Palästinenser sein kann". Dabei gehe es aber nicht darum, "Israel und die Hamas auf eine Stufe zu stellen, wie es die großen Symmetrisierer praktizieren, um Ununterscheidbarkeiten zu insinuieren". Letztlich könne ein "dritter Blick" helfen zu erkennen, dass die Konfliktlinien auch innerhalb der beteiligten Länder verlaufen: "zwischen jenen, die sich um eine pragmatische Koexistenz bemühen, und jenen, die mit ihren Strategien geradezu Eschatologisches im Sinn haben und das Religiöse mit dem Nationalistischen verbinden. Nicht ohne Grund ist die Verbindung von Iran mit Russland so stabil, das Interesse an einer Destabilisierung der Region hat. Dieser Konflikt geht durch die gesamte Region - auch durch Israel hindurch. Es ist weniger ein Kampf der Kulturen als eine politische Frage, pragmatisch mit Pluralismus umgehen zu können oder nicht."

Eine Lösung für Israel und Gaza kann es nur geben, wenn beide Seiten eine neue Führung erhalten, konstatiert der Schriftsteller Etgar Keret in der NZZ. Denn sowohl die Hamas als auch die Regierung in Israel blockieren einen möglichen Frieden: "Netanjahu benutzt die Hamas, um zu legitimieren, dass er den Palästinensern ihr Recht auf einen Staat abspricht. Tatsächlich haben aber die Hamas und die Ultrarechten in der israelischen Regierung keine diametral verschiedene Weltanschauung. Die beiden Parteien sind sich einig, dass in diesem Land nur Platz für eine Nation ist; ihr einziger Streitpunkt ist: für welche? Netanjahu und seine extremistischen Minister Itamar Ben-Gvir und Bezalel Smotrich bevorzugen die Hamas sogar. Sie ist ihnen lieber als jeder andere palästinensische Feind, der, zwar ebenso grausam und entschlossen wie die Hamas, bereit wäre, sich auf eine Zweistaatenlösung einzulassen. Ich habe nicht vor, meine Heimat in nächster Zeit freiwillig zu verlassen, ebenso wenig meine palästinensischen Nachbarn."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 23.04.2024 - Politik

Mirco Keilberth unterhält sich in Berlin für die taz mit Alexander Schwarz vom Verein ECCHR (European Center for Constitutional and Human Rights), der vor dem Berliner Verwaltungsgericht gegen die Lieferung deutscher Waffen an Israel klagt. Es geht dabei nur um Bodeninvasionswaffen, betont Schwarz, nicht um Abwehrwaffen gegen Luftangriffe. "Menschenrechte mit juristischen Mitteln durchzusetzen steht im Zentrum unserer Arbeit als Menschenrechtsorganisation. Dazu gehört es, grundlegende Rechtsprinzipien wie die Achtung des humanitären Völkerrechts juristisch zu verteidigen. Viele unserer palästinensischen Kollegen in Gaza haben Familienangehörige und Freunde durch die israelische Kriegsführung verloren, darunter viele Kinder. Nach den brutalen Verbrechen der Hamas vom 7. Oktober und den israelischen Reaktionen wurde für uns deshalb schnell deutlich, dass die Einhaltung des internationalen Rechts im Gazakrieg juristisch verteidigt werden muss." Ob man das das internationale Recht nicht auch mal gegen die Hamas verteidigen könnte, fragt Keilberth nicht.

9punkt - Die Debattenrundschau vom 22.04.2024 - Politik

Höchst erleichtert nimmt Andreas Ross in der FAZ zur Kenntnis, dass die USA nach monatelanger Blockade durch die Republikaner nun endlich wieder Gelder für Waffenlieferungen in die Ukraine freigibt: "Wenn vermutlich am Dienstag auch der Senat dem Hilfspaket zugestimmt und Präsident Joe Biden das Gesetz unterschrieben hat, dürften die ersten Artilleriegranaten und Waffen binnen Tagen auf dem Schlachtfeld ankommen. Das ist der Unterschied zu vielen Zusagen aus Europa, die, weil die Rüstungsproduktion nicht resoluter hochgefahren wurde, meist nur Versprechen für eine gefährlich ferne Zukunft sind."

Im Zeit-Magazin-Interview mit Paul Middelhoff denkt der jüdisch-amerikanische Philosoph Michael Walzer über den Ausgang des derzeitigen Konflikts zwischen Israel und der Hamas nach. "Wenn es irgendwie gelingen sollte, die Hamas zu schlagen, und eine multinationale Mission daraufhin die Kontrolle über den Gazastreifen übernähme, könnte ich mir vorstellen, dass die Palästinenser diese Chance ergreifen und sich bemühen werden, eine wie auch immer geartete Form von Sicherheit und Selbstbestimmung zu erlangen. Wenn das nicht gelingt und die Hamas den Krieg übersteht, werden sich die Palästinenser radikalisieren und mit ihnen die Israelis. Diese Wirkung hat der Krieg auf Menschen, wenn er nicht eindeutig ausgeht. Auch hier ist Deutschland ein lehrreiches Beispiel: Die Bombardements von Hamburg, Köln und Dresden und der vollständige Sieg über Hitler haben keine neuen Nazis produziert." Klar sei allerdings: "Was Israel da macht, ist kein Genozid."

Die arabischen Länder haben ein Drogenproblem, sein Name ist Captagon. Viel spricht dafür, dass die Drogen von Syrien aus in andere arabische Länder exportiert werden, direkter Profiteur wäre dann das Assad-Regime, berichtet  Serena Bilanceri für die taz: "57 Milliarden US-Dollar soll der weltweite Handel laut der britischen Regierung wert sein. Andere Expert*innen sind zurückhaltender, schätzen ihn auf etwa zehn Milliarden. Die Pillen werden in Kellern und Lagern mit relativ günstigen Maschinen für etwa 50 US-Cent pro Stück produziert, für den Endkunden kosten sie zwischen 1 und 25 US-Dollar pro Pille, je nach Qualität und Herkunftsland. Und Syrien, nach mehr als einem Jahrzehnt Bürgerkrieg, Sanktionen und einer zerrütteten Infrastruktur, hat einen hohen Geldbedarf. Die Iran-nahe Hisbollah und weitere Milizen unterstützen laut Expert*innen ebenfalls den Handel als Einkommensquelle. Sowohl der Iran als auch die Hisbollah haben eine Verwicklung stets verneint."

Die Politologen Sarah Ben Néfissa und Pierre Vermeren legen in Frankreich ein Buch über die "Muslimbrüder an der Macht" vor. Sie werfen den Muslimbrüdern im Gespräch mit Christophe Ayad von Le Monde vor, die Proteste des "arabischen Frühlings" gekapert und dann in die bekannten Sackgassen geführt zu haben, so etwa die Ennahda-Partei in Tunesien. "Die tunesische Erfahrung ist signifikant. Nach einem Jahrzehnt Muslimbrüder-Herrschaft war nichts geschehen: Die Krise des Bildungssystems hatte sich verschärft, es wurden keine öffentlichen Krankenhäuser eingerichtet und so weiter. Die meisten Menschen in Tunesien hatten sich für die Demokratie entschieden. Eine Mehrheit ihrer Wähler hatte vielleicht verstanden, wie wichtig es ist, zwischen Politik und Religion zu unterscheiden. Ihre Stimmen zielten nicht darauf ab, die Umma zu vereinen, sondern darauf, religiöse Menschen an die Regierung zu wählen, von denen sie annahmen, dass sie ehrlich sind, ihr Wort halten und ihr Geld aus den Golfstaaten für wohltätige Zwecke verwenden würden."

Außerdem: In der taz kommt Claus Leggewie auf den Fall George Santos zurück, einen trumpistischen Politiker, der seine Biografie komplett gefälscht hatte.

9punkt - Die Debattenrundschau vom 19.04.2024 - Politik

"Der 7. Oktober war kein Terroranschlag. Er war der Beginn eines neuen globalen antisemitischen Krieges, in dem alle Jüdinnen und Juden sich angegriffen fühlen, weil sie alle angegriffen werden", schreibt Esther Shapira in der Jüdischen Allgemeinen. Zwar wurde Israel im Moment des Schocks nach dem 7. Oktober das "Recht eines jeden Staates, sich gegen die Ermordung seiner Bürger zu wehren", aber dann hagelte es nur noch "Warnungen, Verurteilungen und Belehrungen" zuerkannt. "Das theoretische Recht beinhaltete offenbar nicht das Recht zur praktischen Umsetzung desselben. Niemand nämlich weiß bis heute eine Antwort auf die Frage, wie Israel die militärische Fähigkeit der Hamas grundlegend so reduzieren kann, dass eine Wiederholung des 7. Oktober ausgeschlossen ist, ohne zugleich den Tod vieler Unschuldiger in Kauf zu nehmen."

Seit Israels großen Sieg im Sechs-Tage-Krieg von 1967 sind wir Israelis "hochnäsig" geworden, meint hingegen Avi Primor, ehemaliger Botschafter Israels in Deutschland, in der SZ. Das rächte sich am 7. Oktober, der Israel völlig unvorbereitet traf, fährt er fort und fragt: "Wie kommen wir aus der Klemme heraus? Ich bin der Meinung, dass unsere Regierung nicht alles tut, was nötig ist, um den Krieg in Gaza zu beenden. Ministerpräsident Benjamin Netanjahu hat seine eigenen Probleme: Probleme mit der Justiz und Probleme mit der Politik in Israel. Meinungsumfragen zufolge würde er Neuwahlen heute haushoch verlieren. Aber er wurde für vier Jahre gewählt und hat keinen Anlass zurücktreten, es sei denn, seine Koalition zerfiele. Sie zerfällt aber nicht, weil sie heute aus allen extremistischen Parteien des Landes besteht, auch aus extrem rechten Parteien, die keine Alternative zu dieser Regierung haben."

Es ist schon eine Ironie der Geschichte, dass sich die Attacken auf Israel seit einiger Zeit mit Attacken auf Deutschland verbinden, als wäre das Problem erst aus dem Weg zu räumen, wenn dieser lästige Holocaust-Bezug weg wäre. Angefangen hatte das mit dem postkolonialen Historiker Dirk Moses (erinnern wir uns an die Debatte). Heute sekundiert Charlotte Wiedemann in der taz: "Deutschland ist auf die abschüssige Bahn eines falsch verstandenen Exzeptionalismus geraten: Indem die Verantwortung für den Holocaust und die daraus folgenden außergewöhnlichen Verpflichtungen verengt wurden auf ein Bekenntnis zur israelischen Staatsverfasstheit und Politik. Und indem wir anderen vorschreiben, wie sie zu Israel zu denken haben, wenn sie deutschen Boden betreten."

Wiedemann rät den Israelis friedlich mit den Hamas-Mördern in einer Einstaatenlösung à la Omri Boehm zu leben, der von gegenseitiger Anerkennung geprägt sein werde. Genau das leuchtet Ambros Waibel in einem weiteren taz-Essay nicht ein. Wäre es nicht an der Zeit, fragt er, "die Internationale der Hamas-Nichterwähner:innen erklärte uns 'konkret und kohärent', wie sie sich eine Zukunft in der Region mit diesen Leuten in verantwortlicher Position denken? Soll der 7. Oktober der Nationalfeiertag eines Staats 'from the river to the sea' werden? Was wird man den Kindern zum Anlass der Party sagen? Heute feiern wir, dass Zivilisten abgeschlachtet, gedemütigt, missbraucht und entführt wurden?"

Er mache sich Sorgen, wie in Deutschland mit den Palästinensern umgegangen und die Meinungsfreiheit eingeschränkt werde, sagt wiederum Haaretz-Herausgeber Gideon Levy im Gespräch mit der Berliner Zeitung: "Deutschland hat sich dafür entschieden, dass Freundschaft mit Israel bedeutet, keine Kritik an Israel zuzulassen. Aber das ist keine gute Freundschaft."

Die Historikerin Anne-Christin Klotz präsentiert auf Twitter ein rechtsextremes Flugblatt aus dem Jahr 1988, das klingt, als sei es von heutigen Postkolonialen verfasst: "Den Zionismus stoppen!"

In auffälliger Parallelität zum Raketen- und Drohnenangriff auf Israel verschärft das iranische Regime seinen Rollback gegen Frauen ohne Kopftuch, schreibt  Mina Khani in der taz: "Der Staat propagiert seit Jahren und verstärkt seit der 'Frau-Leben-Freiheit'-Bewegung, die vor eineinhalb Jahren ihren Anfang nahm, eine angebliche Verbindung zwischen 'Zionismus' und dem Ungehorsam iranischer Frauen, die ihr Kopftuch ablegen. Im April letzten Jahres hatte etwa der bekannte Kleriker Masud Ali gesagt: 'Die Zionisten sind diejenigen, die gegen den Hidschab und das Familiensystem in Iran agieren'. Auch die Chefin der kulturellen Kommission des Stadtrats von Teheran warf der Protestbewegung vor, auf der Seite der 'Zionisten' zu stehen."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 18.04.2024 - Politik

Mit Diktaturen reden ist nicht schön, meint Marcus Becker auf SpOn, aber manchmal notwendig. Im Falle Irans dürften auch nach dem Angriff auf Israel die diplomatischen Gespräche auf keinen Fall abbrechen: "Bei einem Totalabbruch der Kontakte, einschließlich aller Wirtschaftsbeziehungen, entfiele für Iran ein wichtiger Anreiz, die Bombe nicht zu bauen. Dann gäbe es nur noch eine Möglichkeit, das Regime daran zu hindern - einen Militärschlag." Und das, so Becker, kann niemand wollen: "Es ist daher richtig, dass Trumps Nachfolger Joe Biden öffentlich klargemacht hat, sich an einem israelischen Angriff gegen Iran nicht zu beteiligen. Sollte ein Bombardement von Irans Nuklearanlagen dazu führen, dass Iran sich die Bombe zulegt, wären die Folgen unabsehbar. Saudi-Arabiens Kronprinz Mohammed bin Salman hat erst vor wenigen Monaten angekündigt, sein Land in diesem Fall ebenfalls nuklear zu bewaffnen. Israels Monopol auf Atomwaffen im Nahen Osten wäre passé."

In der Zeit ärgert sich Philip Peyman Engel, Chefredakteur der Jüdischen Allgemeinen, dessen jüdische Mutter mit ihrer Familie 1967 aus dem Iran fliehen musste, enorm über Forderungen, "Israel solle deeskalieren. Da werde ich emotional. Wieso ermahnt Außenministerin Annalena Baerbock jedes Mal, wenn etwas passiert, Israel - und nicht zuerst den Iran oder die Hamas? Wieso wird bei ihr Israel zum Aggressor? Es gibt eine legendäre Schlagzeile des Focus: 'Israel droht mit Selbstverteidigung'. Die bringt es auf den Punkt." Auch Arye Sharuz Shalicar, Major und Pressesprecher der israelischen Armee, fragt in der Zeit: "Dürfen wir Juden uns aus Sicht der Mahner überhaupt wehren?"

Die arabischen Staaten haben jedenfalls kein Interesse an einem Krieg mit Israel, glaubt Matthias Naß auf ZeitOnline: "Sie wollen endlich ihren Frieden mit Israel schließen. Dies zeigte sich in den 'Abraham-Abkommen', die Bahrain, die Vereinigten Arabischen Emirate und Marokko mit der Regierung in Jerusalem geschlossen haben. Vollends wurde dies deutlich, als Jordaniens Luftwaffe dabei half, die iranischen Drohnen und Raketen vor Erreichen des israelischen Staatsgebiets abzuschießen. Die alten Feindbilder in Nahost schienen plötzlich außer Kraft gesetzt zu sein. Bei der Abwehr des iranischen Angriffs arbeiteten Israels ehemalige Gegner auf das Engste mit dessen westlichen Verbündeten Amerika, Frankreich und Großbritannien zusammen." China allerdings hält dem Iran weiterhin den Rücken frei.

Im Guardian fürchtet die in Brüssel lebende saudische Menschenrechtsaktivistin Lina al-Hathloul um ihre Schwester Loujain, die zu den Frauen gehört, die nicht mehr aus Saudi-Arabien ausreisen dürfen. "Ihr Verbrechen? Sie haben sich für die grundlegenden Menschenrechte eingesetzt. Loujain ist eine prominente saudische Frauenrechtlerin, die die Kampagne gegen das Fahrverbot für Frauen anführte und sich unermüdlich für die Abschaffung des männlichen Vormundschaftssystems einsetzte. Loujains mutiger und offener Aktivismus wurde von den saudischen Behörden mit Repressionen beantwortet. Im März 2018 wurde sie von den Straßen der Vereinigten Arabischen Emirate entführt und gewaltsam nach Saudi-Arabien zurückgebracht." Jetzt unterliegt sie einem "dauerhaften Reiseverbot ohne Ablaufdatum. Die Behörden haben nie eine Begründung geliefert und ignorieren weiterhin unsere Anfragen."

In der NZZ berichtet der Politikwissenschaftler Junhua Zhang über ein Treffen des chinesischen Präsidenten Xi Jinping mit Ma Ying-jeou, dem ehemaligen Präsidenten Taiwans. Dabei besprachen sie, unter welchen Voraussetzungen, eine Wiedervereinigung "auf demokratische Weise" stattfinden könnte. Was auch immer das für beide Seiten bedeute. Bis heute gelte für Xi Jinping offiziell Deng Xiaopings "Losung 'Ein Land, zwei Systeme". Aber wer würde ihm vertrauen? "Es sei daran erinnert, dass Dengs Konzept im Jahre 1997 eine kluge Lösung für Hongkong war. Indes war es Xi selbst, der Dengs Konzept völlig zerstört hat.(...) Mit anderen Worten: Es war Xis eigener Bruch mit Dengs politischem Plan, der die Glaubwürdigkeit der KPCh für Taiwan zunichtemachte. Seitdem wollen die Inselbewohner nicht mehr auf 'Ein Land, zwei Systeme' hereinfallen."